Gedanken eines Gothics (ein Loblieb auf die Szene)

Das 26. Wave-Gotik-Treffen ist vorbei, für mich war es das 15. Treffen in 19 Jahren. Wenn man beinahe sechs Tage lang mit tausenden Gleichgesinnten (es sind jedes Jahr etwa 20.000–25.000 Gothics in Leipzig) auf einem Haufen lebt und dann wieder in das normale Leben zurück kehrt ist das jedes Mal wieder wie eine kleine Vertreibung aus dem Paradies.

Ich bin jetzt seit etwa zwanzig Jahren in der schwarzen Szene und in den letzten Jahren kamen mir immer wieder Gedanken zur Szene und wie sie sich entwickelt hat. Das Post-WGT-Loch hat mich jetzt veranlasst, das einmal nieder zu schreiben.

Eine der schwierigsten Fragen, die man einem Gothic stellen kann, ist, was uns verbindet bzw. wie wir uns definieren. Die Szene wird häufig als eine Musikszene verstanden, aber das passt nur bedingt: die musikalischen Interessen der Mitglieder reichen von Mittelalterlicher Musik bis derben elektronischen Krach, von einfacher Gitarrenmusik (z. B. Neo Folk) bis extremen Metal, von Synthie-Pop bis Punk, und noch viel mehr sowie haufenweise Schattierungen und Vermischungen dazwischen. Ich kenne keine Szene, die musikalisch so vielfältig ist, deswegen ist die Musik wenn dann nur teilweise eine Gemeinsamkeit.

Es sind eher Dinge wie Ästhetikempfinden, Humor, Lebenseinstellungen und andere „intellektuelle“ Dinge, die uns verbinden. Viele von uns eckten als Kinder oder Jugendliche an und standen mit ihren Interessen alleine da, bis sie endlich in der schwarzen Szene Gleichgesinnte fanden. Das treibt teilweise ulkige Stilblüten: in einer Runde habe ich mich mal mit mehrere Freunden über Disney-/Micky-Maus-Figuren unterhalten und wir alle waren uns einig, dass Minnie und Daisy Schlampen sind und jeder Gundel Gaukeley cool fand. Fast alle meine Freunden waren als Kinder und Jugendliche von The Munsters und der Addams Family begeistert (und sind es bis heute): endlich mal vernünftige Leute im Fernsehen!

Gerade weil es hier um Lebenseinstellungen geht ist die schwarze Szene eine, in der die Leute „hängen“ bleiben: es gibt durchaus Leute, die in paar Jahre in der Szene bleiben und sich dann in eine andere Richtung entwickeln, aber für viele von uns ist die Szene einfach ein Teil unseres Lebens, der sich vermutlich auch nicht ändern wird, wenn wir die Rente erreicht haben. Dann wird halt der Rollator entsprechend mit Totenköpfen und Spinnen verziert! Diese Szene hat glücklicherweise keinen Jugendwahn, zwischen 16 und 66 ist alles dabei und die Spanne wird mit den Jahren noch größer werden. In den Münchener Clubs konnte ich in den letzten zwanzig Jahren beobachten wie viele von uns auf einmal graue Haare bekamen. Das ist kein Grund, sich plötzlich nicht mehr zu stylen!

Auf dem WGT (und auch im Freundeskreis) kann man diese Entwicklung auch auf andere Weise sehen: Kinder! Gothics heiraten und vermehren sich wie „normale“ Menschen auch… zumindest teilweise. Deswegen gibt es auf dem WGT schon seit Jahren einen Treffen-Kindergarten. Sobald sie laufen können ist das WGT für Kinder sowieso ein toller Spielplatz: lauter verrückt angezogene Menschen zum anglotzen und man selbst darf auch Fasching spielen und sich austoben, mit der Stoffspinne im Arm. „Normal“ hat auf diesem Fest eine andere Bedeutung.

Die schwarze Szene kann sehr widersprüchlich bei der Toleranz sein: auf der einen Seite ist die Szene unglaublich Tolerant gegenüber „Andersartigen“, aber manchmal auch sehr Ausgrenzend und Intolerant. Das wurde zum Beispiel im Lied Einheitsschritt verarbeitet. Ich habe aber das Gefühl, dass das elitäre und ausgrenzende Gehabe von früher weitestgehend verschwunden ist; zumindest bei langjährigen Szenemitgliedern. Ein schönes Beispiel für die Toleranz (genauer: Akzeptanz) von „Andersartigkeit“ ist, dass alle Spielarten der sexuellen Orientierung und Identität anzutreffen sind. Es kräht kein Rabe danach, ob du schwul, lesbisch, bi, trans oder Furry bist. Es gibt eine große und beinahe natürliche Überschneidung mit der BDSM-Szene.

Genau genommen ist dieser Artikel auch elitäres Gehabe: ich versuche darzulegen, wie toll Gothics im Vergleich zum Otto-Normal-Holzkopf sind und das wir „besser“ sind. Sind wir das? Vermutlich nicht, aber trotzdem komme ich nicht umhin als Teil dieser Gruppe seine vielen positiven Aspekte zu bemerken, ob die nun real oder nur eingebildet sind.

Dieses Jahr ist mir aufgefallen, wie (scheinbar?) selbstverständlich Menschen mit Behinderungen in dieser Szene aufgenommen werden. Ich habe vorher nicht so darauf geachtet, aber als ich am Abreisetag mit Freunden im Leipziger Zoo war und mir eine ganze Gruppe von „Schwarzen“ mit Behinderungen entgegen kam, habe ich einen von ihnen angesehen, der anscheinend mal einen schlimmen Unfall hatte und einen vernarbten, leicht deformierten Kopf hatte. Er bemerkte mich und hat mich angelächelt. Ich lächelte zurück, wir haben uns dann einfach gegrüßt. Das hat mich irgendwie zum Nachdenken gebracht und mir ist aufgefallen, dass ich auf dem WGT eigentlich ziemlich viele Rollstuhlfahrer und Leute mit anderen körperlichen Beeinträchtigungen gesehen habe: Leute mit Down-Syndrom, fehlenden Gliedmaßen, Entstellungen… In der Verkaufshalle war ein Stand, der Leute Massagen anbot. Als ich daran vorbeiging fuhr auch ein Gothic im Rollstuhl vorbei. Einer der Massageleute hat die Leute angesprochen und der Rollstuhlfahrer meinte lachend zu ihnen: „Bringt nichts mehr bei mir, ihr seid zu spät!” In einer der Hauptkonzerthallen war extra für Rollstuhlfahrer und andere eine Bühne aufgebaut, so dass sie auch die Konzerte genießen und etwas sehen konnten.

Ich habe mich in der schwarzen Szene schon sehr früh zu Hause gefühlt, zum einen eben weil ich dort endlich Leute mit ähnlichen Interessen und Lebenseinstellungen getroffen habe und zum anderen, weil es eine unglaublich positive und freundliche Szene ist. Außenstehen sehen Nieten, Totenköpfe, Pentagramme: alles böse Satanisten, die schwarze Messen und Orgien abhalten! Als ob das etwas Schlechtes wäre… Unsere Erscheinung hat bei manchen zum Teil auch tatsächlich damit zu tun, andere auf Distanz zu halten. Das ist aber nur die Oberfläche.

Zusammen mit einem Freund und unseren Frauen habe ich jahrelang einen kleines Gothic-Event, den Dark Tuesday, im Pulverturm betrieben, wo ich bis zum Ende auch normaler Stammgast war. Während dort bei den Reggae-Veranstaltungen oft die Fetzen und Fäuste flogen und die Polizei anrücken musste, konntest du bei den Gothics eine zierliche Frau als Türsteherin einsetzen. In all den Jahren, die wir den Dark Tuesday betrieben haben, hatten wir nur zwei mal Ärger mit Gästen: einmal ein betrunkener Gast, den wir rauswerfen mussten und der dann mehrmals über den Zaun kletterte, und einmal eine Rollstuhlfahrerin, die sich mit irgendjemanden derart stritt, dass wir sie rausschmeißen mussten. Das war's.

Seit vielen Jahren gibt es Freitags am WGT ein Picknick. Ursprünglich als viktorianisches Picknick mit entsprechender Kleidung ausgelegt ist es immer noch der Tag, an dem man seine viktorianische, Rokoko- oder Biedermeier-Kluft ausführen muss oder etwas ähnliches (sofern vorhanden), aber das Picknick hat ein Eigenleben bekommen und ist auf ein Größe angewachsen, die schon unangenehm geworden ist. Es ist schwierig Menschenmassen zu schätzen, aber ich glaube die Tausendergrenze wurde schon überschritten (und dann sind da ja noch die ganzen Normalos, die glotzen und fotografieren kommen). Und trotzdem bleibt kein Müll liegen, weil wir ja anständige Menschen sind die ihren Dreck wieder mitnehmen. Das gehört mit zu den Sachen, die ich an dieser Szene schätze.

In Leipzig singen die Taxifahrer schon seit Jahren ständig Loblieder auf die Gothics: wir sind immer höflich, geben gutes Trinkgeld und kotzen nicht in's Taxi, weil wir es mit dem saufen nicht übertreiben (sonstige Drogen spielen in der Szene auch keine nennenswerte Rolle). Wir kriegen das von beinahe jedem zweiten Taxifahrer zu hören. Vor einigen Jahren fiel das Wave-Gotik-Treffen mit einem Sportfest zusammen und in dem Jahr hat man die Taxifahrer nur schimpfen und fluchen hören: die Sportler waren das Gegenteil zu den Gothics. Die haben gesoffen als gäbe es kein Morgen, waren unhöflich und geizig; es gab viel Ärger mit den Sportlern. Insgesamt ist Leipzig mittlerweile zu Pfingsten voll auf das schwarze Volk eingestellt, die recht beliebt sind; es werden ja auch mehrere Millionen Euro in die Stadt getragen und sie wissen sich eben zu benehmen. Für die Hotels ist Pfingsten Hauptsaison, bei kleineren und auch vielen größeren Hotels muss man viele Monate im Voraus buchen, wenn man noch ein Zimmer will. Entsprechend der Nachfrage werden dann auch saftige Preise aufgerufen und das Vier-Sterne-Luxushotel, in dem auch Staatsgäste absteigen, ist preislich auf einmal „nur“ noch gehobenes Mittelfeld.

Am letzten WGT-Tag dieses Jahr war meine Frau noch in der Shopping-Halle, kurz bevor dicht gemacht wurde. Sie kam mit einer Verkäuferin in's Gespräch die auch erzählte, wie gern sie doch die „Schwarzen“ als Kunden hat. Wenn die wiederkommen, weil etwas mit den gekauften Klamotten nicht passt, dann wird da freundlich auf den Schaden hingewiesen und gefragt, wie man das lösen könne. Die Händlerin erzählte, dass sie nur noch auf Szene-Märkte von Gothics, Metallern und ähnlichem fährt weil ihr „normale“ zu nervig sind: die kommen nämlich stänkernd und schimpfend zurück, wenn was nicht passt.

(Randnotiz: Metall macht Leute statistisch gesehen zu besseren und ausgeglicheneren Menschen!)

Ich liebe meine Szene und ihre Menschen! Ein Freund hat es dieses Jahr schön auf den Punkt gebracht: „Freunde finden, die die gleiche psychische Störung haben wie man selbst: unbezahlbar!“